Ich sehe sie, ich habe sie durchschaut. Ich nehme sie wahr. Sie sitzt neben mir. Mit dem Kopf nach unten versteckt sie ihr Gesicht hinter den Gardinen der lagen Haaren. Sie schliesst die Augen und atmet tief.
“Ist es dein erstes Mal?” frage ich. Sie nickt.
“Das haben wir alle erlebt, wir alle, die jetzt in diesem sterilen Warteraum sitzen. Ich habe überlebt. So eine grosse Freude hat meinen ganzen Koerper gefangen als mein erstes Mal vorbei war. So eine grosse Erleichterung. Und dann wieder nach Hause und die Sympthome sind schnell wieder gekommen. Es hiess, ich soll Geduld haben aber ich hatte keine Kraft zu verstehen, was mit mir überhaupt passiert, wo hätte ich die Kraft für die Geduld finden sollen? Das war nur das erste Mal und kurz danach war es mir mehr als klar, dass irgendwann wäre dieser Ort mir altgewohnt geworden. Es wird dir ein paar Mal noch schwer fallen aber irgendwann gewöhnt man sich dran, glaub mir. Ich komme immer wieder und die Angst nimmt jedes Mal ein bisschen ab, geht ein Schritt zurück und lässt ein bisschen mehr Raum für andere Gefühle.
Die Hoffnung, die bleibt immer, auch wenn man fest überzeugt ist, dass man sie einmal für immer verloren hat, auch wenn man glaubt, dass man selber verloren ist. Ich glaube es nehmlich, dass ich verloren bin aber mein Psycheter nicht. Er hat noch ein paar Zweifeln. Ich gehe jedes Mal hin mit der selben Hoffnung, dass er versteht, wie verloren ich bin. Immer der selbe Ablauf findet statt. Er geht durch das Wartezimmer zur Rezeption, kommt wieder raus und mit ernster Stimme ruft: “Frau Fulli?”. Ich beeile mich, ich kann doch keine Sekunde verschwenden, um meine Überzeugungstrategie durchzufuehren. Aber wenn wir in seinem Zimmer sind, muss er erstmal die Fenster zu machen und einen selbstverstaendlichen Nehmensieplatz aussprechen. Jetzt fange ich endlich mal an. “Wie geht es Ihnen, Frau Fulli?” betont er. “Nicht gut. Gar nicht. Ich weiss nicht mehr, wo ich mich befinde, verstehen Sie? Ich bin ver-lo-ren. Ich habe Depersonalisierungsprobleme, Depressionsympthome, Derealisationsphaenomene, Angstanfaelle, Albtraeumeattacken, Selbstmordgedanken, Antriebsarmut, gierige Bedurfnisse, Verwirrungswahrnemungen, Gedankenstoerungen, Konzentrationsmangel, Sprachdefizite, Bewegungseinschrenkungen, Schlafstoerungen, Aufstehlustloesichkeit, Apathie, Affektiveverwirrungen.” . Er nickt und tippt alles auf dem Rechner. “Frau Fulli” sagt er schnell, bevor er den für mich wohlverdienten Satz ausspricht “Ihre ist eine komplizierte Situation, nicht im Sinne von Gefährlich sondern im Sinne von komplex aber ich würde jetzt an den Medikamente noch nichts ändern”. Ich bin enttäuscht, jedes Mal, wenn er mit diesem Satz kommt. Habe ich es etwa verdient? Ich bekomme einen Termin erstmal in zwei Wochen wieder. Wie soll ich bis dahin meine Hypochodrie ernähren? Habe ich es mir wirklich verdient? Nein ist die Antwort, deswegen werde ich meine Strategie erstmal nicht ändern, wie die Medikamente, und ich gehe zur offenen Sprechstunde am Donnerstag wieder hin. Der selbe Ablauf: “Frau Fulli?” und die Fester und wieder meinen Namen und die selbstverstaendliche Frage und ich “Schlecht, sehr sehr schlecht. Ich habe den Eindruck, ich bin ständig am kämpfen gegen die Konzentrationsdefizite, die Affektiveeinschrenkungen, die Antriebslosigkeit, die Derealisationsprobleme, die Angstattacken, die Albtraeumeanfelle, die Schlafmangel, die Depersonalisierungsphaenomene, die verwirrte Wahrnehmungsstorungen, die Gefuehlarmut etc etc” und er schreibt und schreibt und schreibt. “ Frau Fulli, Ihre Situation ist sehr kompliziert aber ich bin mir trotzem quasi sicher, dass es sich nicht um eine Psychose haldelt. Wenn Sie sich so depressiv fuehlen, wuerde ich Ihnen die Paroxetindosis auf 30 mg erhöhen.”. Endlich, das ist doch die Behandlung, die ich mir mit so viel Leiden verdient habe. Jetzt muss ich nur noch 2 Wochen warten, bis ich einen neuen Termin bekomme und die Medikamente anfangen zu wirken. Und jetzt heute bin ich wieder hier. Aber heute werde ich ihn überraschen, weil ich nähmlich eine neue Strategie entwickelt habe.”
Der Herr P. durchquert das Wartezimmer. Dann kommt er aus der Rezeption wieder Raus. “Frau Fulli?”, ich stehe auf, das Mädchen nehmen mir gugkt mich kurz an. Ich schicke ihr ein nettes Gucken zurück und folge dem Herrn P. in seinen Raum. Ich setze mich auf den schwarzen Sessel. “Frau Fulli, wie geht es Ihnen?” fragt er mich, wie die Routine will. “Wie soll es mir denn gehen? Ich lebe seit Jahren von abgetriebenen Traeumen, von verlorenen Vergangenheiten, von abgeleugneten Zukunfte, verwirrte Orientirungen, unerlebten Lieben, unterbrochenen Reisen, grauen Himmeln, aberkannten Wuerzeln, verfallenen Werten, veralteten Idealen, unverstandenen Zustaende. Wie soll es mir eigentlich gehen?”.
“Ich verstehe. Ihre Situation ist sehr komplex aber ich wuerde an den Medikamenten erstmal nichts ändern”.